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Barbara Hess

Schwankungsreserven

Über einige Arbeiten von Walther Schwiete

Damit etwas überhaupt wahrgenommen werden kann, muss es als Teil der Situation wahrgenommen werden. [1] Diese Behauptung des amerikanischen Kunsthistorikers Michael Fried, vorgetragen in seiner viel zitierten Kritik der Minimal Art, scheint sich bei der Betrachtung der großformatigen, kubischen Styropor-Objekte von Walther Schwiete in zugespitzter Weise zu bewahrheiten. Zu groß, um sie auf einen Blick zu erfassen, bewegt man sich an ihnen entlang oder um sie herum und versetzt die scheinbar knapp über dem Boden schwebenden, kugelgelagerten Blöcke durch den dabei entstehenden Luftsog in eine leichte Bewegung. Die Wahrnehmungsirritation, die sich daraufhin einstellt, lässt sich mit dem Gefühl vergleichen, das man in einem stehenden Zug empfindet, wenn sich auf einem Nachbargleis ein anderer Zug langsam in Bewegung setzt. Kein Zweifel, dass die Styropor-Objekte vom Betrachter als Teil der Situation wahrgenommen werden.

Dass Walther Schwietes Arbeiten an einige Aspekte der Minimal Art anknüpfen und diese weiterentwickeln, hat Friedrich Meschede – mit einer Anspielung auf einen berühmten Text von Donald Judd – bereits 1989 am Beispiel einer Serie von Wandobjekten dargelegt. [2] Diese grundsätzliche Einschätzung bleibt auch für die spätere und aktuelle, vielfältige und teils „expressivere” Produktion des Künstlers von Bedeutung. So trifft etwa Judds Beobachtung, dass Mitte der sechziger Jahre die Hälfte oder mehr der besten neuen Arbeiten weder Malerei noch Skulptur, jedoch dem einen oder anderen mehr oder weniger verwandt waren, auch auf die eingangs erwähnten Styropor-Objekte zu. Ihre Oberfläche wurde auf unterschiedliche Weise mit Silberlack bearbeitet, der durch seine ätzende Wirkung die obere Schicht des Kunststoffs in mehr oder weniger tiefe Reliefstrukturen oder kugelförmige Höhlungen transformiert. Wenn also bestimmte seit der Minimal Art etablierte Prinzipien wie Serialität und die Verwendung von Materialien aus dem Bereich der technischen Produktion – zum Beispiel Leuchtstoffröhren, Metallbleche oder Kunststoffe – von Walther Schwiete fortgeführt werden, so geschieht dies nie ungebrochen, sondern stets mit dezidierten Wendungen: So werden etwa Neonröhren zu leeren Sprechblasen geformt, die – als Wandarbeiten in Innen- oder Außenräumen montiert – ihre möglichen „Inhalte“ erst aus dem jeweiligen Kontext ihrer Installation erhalten.

Spezifisch am Werk von Walther Schwiete ist nicht nur die Auswahl, sondern auch der Einsatz der Materialien. Seine Entscheidung für industriell gefertigte Werkstoffe gilt zumeist solchen, die im Alltag eine eher unscheinbare Existenz führen und vom Künstler überwiegend selbst weiterverarbeitet werden können, wie etwa Styropor oder Polyethylen-Perlen, die eigentlich für einfache Bastelarbeiten hergestellt werden. Schwiete verwendet sie in zeitaufwändiger Handarbeit zur Herstellung kleinformatiger Wandobjekte mit glänzenden Oberflächen, die ihren „Low-Tech“-Herstellungsprozess nicht leugnen; die Struktur der PE-Perlen bleibt bei genauer Betrachtung erkennbar. An die Stelle eines industriell perfekten Finish mit seiner Fetischisierung harter, reflektierender Oberflächen tritt hier eine individuelle, experimentelle Herangehensweise, die Schwietes Aktivitäten in einem Bereich verortet, der – mit Claude Lévi-Strauss gesprochen –

zwischen dem des Bastlers und dem des Ingenieurs liegt. Das heißt, es werden vorhandene Materialien und Technologien der (post-) industriellen Gesellschaft verwendet, nicht um sich deren Standards zu unterwerfen, sondern um damit eigene und eigensinnige Zwecke zu verfolgen.

Dabei werden gelegentlich auch Momente des technischen, ökonomischen oder individuellen Scheiterns beleuchtet. So fungiert als visuelle Klammer des vorliegenden Kataloges eine historische Abbildung des sogenannten Bessemer Salon-Schiffs, benannt nach seinem Erfinder, dem englischen Ingenieur und Geschäftsmann Sir Henry Bessemer. Dessen Neigung zur Seekrankheit gab in den 1870er Jahren den Anstoß zu einer Erfindung, mittels derer die Passagierräume eines Schiffs auch bei starkem Seegang schwankungsfrei in waagerechter Position gehalten werden sollten. Bessemers Salon-Schiff, das im Transportwesen zwischen England und dem Kontinent neue Maßstäbe setzen sollte, blieb eine Utopie, ein unvollendetes Projekt: Seine Entwicklung, die die Gründung einer Schifffahrtsgesellschaft erforderlich gemacht hatte, verschlang so große Teile von Bessemers Vermögen, dass er das Funktionieren seiner Erfindung in der Praxis nie beweisen konnte. Die Zeichnung, die einen Querschnitt durch den Schiffsrumpf zeigt, ist daher ebenso ein Sinnbild für Erfindungsgeist und Technikoptimismus wie für die Untiefen der Ökonomie; Motive, die auch in anderen Arbeiten Walther Schwietes anklingen, wie etwa in der Serie Kurse und Gebirge (2000) aus Polyethylen-Intarsien – die unter anderem eine Reihe von Börsenkursen ins Bild setzt – und dem Video WeltHölzer (2002), das sich mit Aufstieg und Fall des Zündholzkönigs Ivar Kreuger beschäftigt. [3]

Korrespondierte die Entstehung der Minimal Art historisch ebenso mit einer gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung wie mit einer wachsenden Bedeutung von Markenzeichen und Corporate-Identity-Programmen, so fallen Walther Schwietes aktuelle Arbeiten in den kulturellen und ökonomischen Kontext von Wirtschaftsflaute und Ich-AGs, Börsenverlusten und No-Logo-Debatte. Und so kann Frieds eingangs zitiertes Diktum – dass etwas, um überhaupt wahrnehmbar zu sein, als Teil der Situation wahrgenommen werden müsse – auch in einem erweiterten Sinne verstanden werden und den Blick auf die Arbeiten von Walther Schwiete schärfen.

Katalogtext, in: Walther Schwiete, MAS|SEN|TRA|EGH|EIT, Hg: Galerie Stefan Rasche, Münster 2004

1 Michael Fried, Kunst und Objekthaftigkeit (1967), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hrsg. von Gregor Stemmrich, Dresden und Basel 1995, S. 334–74.

2 Friedrich Meschede, Spezifischere Objekte, in: Walther Schwiete, Ausst.-Kat. Galerie Monika Hoffmann, Paderborn 1989, o. S.

3 Zu WeltHölzer (2002) siehe den Text von Stefan Rasche im vorliegenden Katalog.

Stefan Rasche

Manuskript zur Einführung in die Ausstellung BRANDWAND, Kunstverein Oerlinghausen 2017

Brandwand nennt Walther Schwiete seine Ausstellung hier im Kunstverein Oerlinghausen – ein Begriff, der eigentlich aus der Fachsprache der Architekten stammt und eine besondere Mauer bezeichnet, die ein Übergreifen von Feuer und Rauch von einem Gebäude zum nächsten verhindern soll. Hier aber erhält der Titel eine andere Bedeutung, denn er bezieht sich auf die zentrale Installation, die Walther Schwiete eigens für den Ausstellungsort geschaffen hat.

Wenn wir den Kunstverein betreten, so erscheint dieser Einbau zunächst wie eine große, weiße Kiste, die leicht diagonal im Raum steht. Gehen wir dann an der Längsseite entlang und biegen nach links, so stellen wir fest, dass es sich nicht um ein geschlossenes Volumen handelt, sondern es öffnet sich ein Raumwinkel, eine Art „Restraum“. Das heißt, wir haben es tatsächlich mit einer frei stehenden, L-förmigen Wand zu tun, 3 Meter hoch und 5 + 3 Meter lang. Zurück geht es übrigens auf demselben Weg, denn die Installation ist so positioniert, dass sie sich nicht komplett umrunden lässt, zumal sie mit ihrem kürzeren Schenkel bis fast an die Mauer bzw. das Geländer stößt.

Was dadurch entsteht, ist eine Zweiteilung des Raumes, die (nicht zuletzt) dem unterschiedlichen Erscheinungsbild der beiden Ansichtsseiten entspricht. Deren Kontrast könnte kaum größer sein, denn so hell und überschaubar die eine Seite wirkt, so dunkel und kleinteilig verschachtelt zeigt sich die andere.

Die Außenseite zunächst ist mit Styropor-Paneelen verkleidet, auf die der Künstler eine Zeichnung mit silbernem Nitrolack aufgebracht hat. Dies geschieht im Ätzverfahren, denn der Lack frisst sich tief in die Oberfläche des Materials hinein. Gezeichnet wurde auf diese Weise die zerstörte Frontscheibe eines PKW, in der sich fünf Einschusslöcher befinden - vielleicht infolge eines Attentats, ein Tatort-Foto möglicherweise, wie man es aus den Medien kennt.

Wenden wir uns sodann der Innenseite, der eigentlichen Brandwand zu, so beruht auch sie auf einem Plattenbauprinzip, hier nämlich sind es große Sperrholztafeln, die Walther Schwiete mit selbst gebauten, eisernen Motiv-Stempeln bearbeitet hat, indem er diese erhitzt und Schicht für Schicht in das Holz hinein brennt. Gegliedert wird die Wand durch eine Vielzahl ovaler Formen, was an Flugzeugfenster oder an die Perforierungen von Filmstreifen erinnert, in der Gesamtansicht aber auch an eine riesige, dunkle, monotone Hausfassade mit Hunderten von Fensteröffnungen denken lässt. Dementsprechend entsteht eine tiefenräumliche Illusion, gerade so, als blicke man durch die geschwärzte Wand hindurch wie durch Gucklöcher in einen helleren Raum, in dem sich ganz verschiedene Erscheinungen zeigen. So sehen wir zum Beispiel rauchende Schornsteine, eine Flamme, ein Auto mit leuchtenden Scheinwerfern, Totenköpfe oder Handgranaten.

Hinzu kommt übrigens noch eine Reihe kleinformatiger „Brandings“ im Eingangsbereich des Kunstvereins, bei der einzelne Motive der großen Brandwand wieder aufgegriffen und variiert werden.

So unterschiedlich sich die beiden Seiten der Installation präsentieren, so sehr beruhen sie doch auf einer vergleichbaren künstlerischen Strategie. Diese äußert sich nicht nur in einem besonderen Materialverständnis, sondern auch in eigens erfundenen Verfahrensweisen, die Walther Schwiete – wie ein Künstler-Ingenieur – auf die Werkstoffe anwendet. So nimmt er hier wie dort konkrete, physische Einschreibungen vor, die in das Material hineinwirken, sei es durch das Einbrennen der Stempel in das Holz oder durch die Lackätzungen im Styropor.

Und noch etwas prägt seine Arbeit seit langem, nämlich das Sammeln von Motiven und Bildgegenständen, von Logos und Piktogrammen, die er aus verschiedenen Zusammenhängen heraus präpariert und dann für seine Zwecke verwendet. Dabei interessieren ihn diese Ikons zu allererst in ihrer formalen Gestalt und weniger als Symbole von verbindlicher Bedeutung, oder wenn, so sind es am ehesten Zeichen in einem offenen System – wie sich manche dieser Motive in einer ehemaligen Synagoge dann auch anders deuten lassen als in einem herkömmlichen Museum.

Kommen wir schließlich zur dritten Werkgruppe dieser Ausstellung, den so genannten PE-Arbeiten, die sich überwiegend im Souterrain befinden. Auch sie beruhen auf einem Akt der körperlichen Einschreibung, denn es handelt sich um Intarsien, die der Künstler herstellt unter Verwendung kleinster Bausteine aus Polyethylen. Aus ihnen komponiert er Bildtafeln, die dann mit dem Bügeleisen eingeschmolzen werden, so dass eine dünne, glatte Kunststoffhaut entsteht, die schließlich auf kleine Holzfaserplatten aufgezogen wird. Was die Motive dieser Tafeln betrifft, so gibt es auch hier grafische Zeichen, wie etwa die weißen Sprechblasen auf orangefarbenem Grund, aber es gibt auch malerisch-atmosphärische Bildräume, zum Beispiel von rauchenden Schornsteinen einer Industrielandschaft oder von Autolichtern bei Nacht, die sich im Asphalt spiegeln – gerade so, als stünde man auf einer Brücke und schaue bei Regen in den dichten Feierabendverkehr.

Ob von dort aus auf das Fahrzeug geschossen wurde, das wir auf der großen Styroporwand abgebildet sehen – das sei dahingestellt und ist nicht mehr als eine pure Vermutung, aber auch damit spielt diese Ausstellung: einem Hin und Her der Bezüge, einem Dialog der Motive und Bildgegenstände, der unseren Blick und unser bildnerisches Denken in permanenter Bewegung hält.